Hallucinatory Mahdis and Æons. Andrew Gilbert & David Tibet in Berlin

Die Maler Andrew Gilbert und David Tibet sind ein ungleiches Gespann, und doch verbunden durch einige interessante Gemeinsamkeiten. Beide sind Kinder des British Empire, und auf je eigene Weise prägte das auch ihr Werk. Tibet, der als Sänger von Current 93 eines der interessantesten und eigenwilligsten Kapitel alternativer Musikgeschichte schrieb, kam in der ehemaligen Kronkolonie Malaysia zur Welt und verbrachte dort seine Kindheit. In „England’s Hidden Reverse“ äußerte er, wie sehr ihn das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und Religionen beeindruckte.
Die Ursprünge seiner langjährigen Beschäftigung mit endzeitlichen Fragen liegt in dieser Zeit, sein recht eigenständiger, über lange Zeiträume hinweg auch eklektischer Umgang damit mag u.a. auf die Diversität dieser Eindrücke zurück zu führen sein. In Malaysia begegnete er erstmals auch den Schriften Crowleys und natürlich dem Buddhismus. Sein obsessives Interesse an der christlichen Kosmologie nahm hier seinen Anfang und mündete Jahre später nicht nur in Songtexte von beeindruckender surrealer Evokativkraft, sondern auch in die religiösen Sujets seiner farbenfrohen Gemälde und Zeichnungen. Im größeren Stil präsentierte er diese erstmals 1999 in der visuellen Gestaltung seines Ausnahmealbums „Soft Black Stars“. Ihr meist auf naiven Formen in kräftigen Rot-, Grün- und Blautönen basierender Stil entwickelte sich stetig weiter, wurde über die Jahre vielschichtiger und komplexer.
Ausgehend von der Themenwahl sind Gilberts Werke weltlicher, sein Interesse am Interkulturellen erscheint programmatischer und politischer. Im Werk des 1980 in Schottland geborenen Wahlberliners treffen historische Sujets und allerlei Exotisches auf Motive der Populärkultur. Doch auch religiöse Mythen der jeweiligen Schauplätze finden ihren Ausdruck. Eines seiner Hauptthemen ist die Militärgeschichte Englands zur Kolonialzeit. Seine Bilder, überwiegend Acrylgemälde und Aquarelle von etwas matterer, aber ebenso opulenter Farbgestaltung, ergeben zusammen einen größeren narrativen Zusammenhang, erzählen die fiktive Biografie eines „Rotrocks“ im Offizierststand, der im Dienst der englischen Krone in mehreren Weltgegenden tätig war: Tansania, Jerusalem, Indien und zuletzt Afghanistan, wo er in einer der Versionen seinen Tod findet. Es gibt eine andere Version, bei der er in Südafrika stirbt – exekutiert von rebellierenden Indigenen. Der Name des Soldaten ist übrigens ebenfalls Andrew Gilbert, und er wird irgendwann im Laufe der turbulenten Geschichte von den Zulu zu ihrem Kaiser ernannt. Dass Gilbert die Geschichte nicht als eine Art Graphic Novel herausbringt und nicht einmal in seinem Katalog „Andrew Emperor of Africa“ als fertige Story präsentiert, hat primär folgenden Grund: Sie ist nicht nur in ihrer Ereignisfolge äußerst unlinear, sondern auch prinzipiell unabschließbar. Immer mehr historische, fantastische und biografische Details kommen mit der Zeit hinzu. Auf den neuesten Gemälden kommt es im Sudan zu einer islamischen Revolte unter der Führung eines geheimnissvollen Mahdi, und im Strudel der Ereignisse trifft (der fiktive) Gilbert dann auch noch seinen treuen Weggefährten – den Künstlerkollegen David Tibet.
Das Interesse für den Konnex Militaria und Kolonialgeschichte entwickelte Gilbert schon recht früh, als eines der prägendsten Erlebnisse bezeichnete er einmal den Film „Zulu“ mit Michael Caine, dessen eindrucksvolle kritische Darstellung des 1879 vom Zaun gebrochenen Krieges zwischen Briten und Zulu nicht nur den Grundstein für Gilberts Perspektive auf seine als Schotte ohnehin delikate Britishness legte, sondern ihn auch zu ersten Zeichnungen anregte: Rote Uniformen und ihre Insignien, Schmuck und Masken der Zulukämpfer, zahlreiche Waffen und die Landschaft Ostafrikas sollten wiederkehrende Motive seines bevorzugten Stoffes werden. Interessant die ausgeglichene Zwiegespaltenheit seiner oft ans Naive grenzenden Darstellungen, bei denen sowohl dem einzelnen britischen Kolonialkämfer als auch den Angehörigen der geschundenen Urbevölkerungen Empathie entgegen gebracht wird. Den Künstler scheint die Einheit suggerierende und Sicherheit gebende Kraft der uniformierten Kolonialarmeen zu faszinieren, und doch klagt er zugleich die Destruktivität (früh-)moderner Kriegsführung und die kulturelle Hybris der Briten an: “I love the contrasts of beautiful elaborate uniforms with total carnage” sagte er bereits in einem Interview.
Wie so oft in der Welt von Current 93 kam es zu der am 24.09.2011 eröffneten Berliner Ausstellung durch eine Reihe von Zufällen. Gilbert ist schon länger mit den beiden Künstlern in Kontakt, die den Kreuzberger Artspace „nationalmuseum“ betreiben (namentlich im übrigen eine Inversion britischen Understatements und ein perfektes Beispiel an Neuberliner Selbstironie) – und schätzt nebenbei den Musiker Tibet schon lange. Dieser entdeckte irgendwann den Katalog des Schotten und brannte darauf, in irgendeiner Form mit ihm zu kooperieren. Schnell kam der Kontakt zustande und die Weichen für die Two Man Show waren gestellt. Das Resultat ist eine Art Best Of-Zusammenstellung aus mehreren Dutzend Werken beider Künstler, die unabhängig von Themenschwerpunkt und Erscheinungsjahr auf die vier Wände des mittelgroßen Raumes verteilt wurden: hauptsächlich Gemälde, doch auch eine Maske und zwei Mixed Media-Skulpturen von Gilbert, zu deren Materialien auch so verderbliche Dinge wie Kartoffeln zählten, welche die Augen Erschlagener verkörperten. Und obwohl vermutlich auch Besucher ohne Vorkenntnisse schon nach kurzer Zeit sofort erkennen konnten, ob ein Bild von Tibet oder von Gilbert stammte, harmonierten die Arbeiten bestens. Tibet betonte im Gespräch, dass er stets seiner Intuition folge, wenn er sich auf ein gemeinsames Projekt einlässt – ähnlich wie auch in Current 93 mit seinen zahllosen Gastmusikern. Offenkundige Gemeinsamkeiten seien zweitrangig und fielen ihm meist erst später ins Auge: „Würden Emerson, Lake and Palmer mich fragen, ob ich ein Albumcover für sie gestalten würde, wäre das für mich keine Frage, denn ich liebe ihre Musik, auch wenn ich da kaum einen Bezug zu meinen Bildern erkennen kann.“
Beide Künstler sind Schöpfer umfangreicher Privatmythologien, die sich allerdings nicht nur in der Themenwahl unterscheiden – auch die ästhetische Vermittlung ist eine grundsätzlich andere. Gilbert ist in erster Linie ein großer Geschichtenerzähler, dessen ereignisreiche Darstellungen wie Stills aus einem überlangen Animationsfilm anmuten, dessen Skript von Joseph Conrad in fiktiver Kooperation mit André Breton stammen könnte. Als Betrachter ist man verführt, sich auf lange Zeit in dem Geschichtszyklus zu verlieren und den skurrilen Ereignissen auf den Grund zu gehen – sie verlangen volle Aufmerksamkeit, vermögen letztlich aber auch Betrachter zu faszinieren, die sich die Bilder nicht ins heimische Wohnzimmer hängen würden. Tibet zeigt eher als dass er erzählt, seine Bilder sind von einer stark atmosphärischen Wirkung. Viele seiner Sujets sind derart abstrakt, dass man ihren kosmologischen Charakter ohne Hintergrundwissen höchstens erahnen kann, wenngleich verschiedene Figuren der christlichen Narration vorkommen: Adam, der erste Mensch in Gleichsetzung mit Aleph, dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets – ein Themenkomplex, der in Tibets Rockalbum „Aleph at Hallucinatory Mountain“ musikalischen Ausdruck fand und gleich eine ganze Serie an Bildern hervorbrachte. Verkörperungen des Bösen fehlen selbstverständlich nicht, wenngleich ihre Zeichnung hermetisch bleibt und jeder Plakativität abschwört, die für Teufelsdarstellungen in der Kunst typisch sind. Und natürlich die Figur des Erlösers, präsentiert in zahllosen Darstellungen des Kreuzes, das in der jüngsten Schaffensphase Tibets, die musikalisch im Album „HoneySuckle Æons“ kulminierte, wieder stark an Bedeutung gewann. Der hermetische Charakter dieser Bilder resultiert jedoch nicht nur aus ihrer Thematik, sondern auch aus ihrer starken Selbstbezogenheit – ähnlich seinen Songlyrics wirken Tibets Gemälde wie bildreiche innere Monologe, bei denen die Hauptperson stets das Künstlersubjekt selbst ist, das neben den kosmischen Ereignissen allem voran seinen eigenen Blick auf diese ins Zentrum stellt und Teil des jeweiligen Mythos wird: „I am Black Ship“, „I am Aleph“, „I am Æon“, „I am Zion“ hies es bereits wiederholt in seinen Texten, in denen er – stellvertretend für den Menschen an sich – in die Rolle religiöser Allegorien schlüpft. Auch an dieser Stelle ähnelt er Gilbert, der sich selbst zum Helden seiner Historienmalerei stilisiert, und erlebendes Subjekt der historischen Ereignisse wird, die in seinem Tod enden.
Tibet benannte das Kindliche letztlich als diejenige Qualität, die ihn noch am Offensichtlichsten mit Gilberts Werken verbindet. Der Reiz seiner Bilder liegt nicht zuletzt in der Präsentation großer Themen in schlichter, freundlicher und meist farbenfroher Gestalt. Darstellungen der Kreuzigung werden in jüngeren Werken mit einer Vielzahl mit Wachsstiften gemalter Kugeln umgeben, die in ihrer niemals grellen Buntheit dem Szenario ein Kindchenschama beigeben, dass ähnlich wie die zahllosen runden Gesichter aus der Alephzeit Tibets Aussage zu unterstreichen scheint, dass das Wort Apokalypse für ihn viel weniger für eine Katastrophe stehe, als vielmehr für Offenbarung und Erlösung. Die Bezeichnung „Cartoon Apocalypse“ wurde längst zum Geflügelten Wort und steht für einen Hauptaspekt seiner Arbeiten generell. Allerdings sind wenige seiner Bilder wirklich cartoonesk, vielmehr macht der naiv-eingängige Stil die Ernsthaftigkeit seiner Sujets umso deutlicher. Die verträumte Rauschhaftigkeit vieler Darstellungen scheint das Halluzinatorische zu unterstreichen, bei dem das träumende Künstlersubjekt zum blinden Seher wird und einen kleinen Einblick in kosmische Zusammenhänge bekommt.
Bei Gilbert bekommt der kindliche Blick etwas Dreistes, die naive Unbekümmertheit scheint ihm die unverblümte Darstellung grotesker Kriegsgräuel zu erleichtern, und bei aller Anklage der britischen Kolonialmacht spricht doch aus allen Motiven auch die Lust an der Transgression. Lust heißt hier nicht, dass er die Grausamkeit der Kolonialkriege auch nur in irgend einer Form verherrlichen würde – vielmehr offenbart sich dabei die Genugtuung desjenigen, der mit Freude schöne Fassaden einreißt, um der Welt den dahinter geheim gehaltenen Schmutz zu präsentieren. Fantasie und historische Wirklichkeit, Zeitkritik und schalkhafte Lust an der Provokation begegnen sich dabei bisweilen auf engstem Raum, z.B. wenn der Kopf der enthaupteten Queen in eine Lidl-Tüte entsorgt wird – von einer Magd, deren Gesicht nicht nur ein Totenschädel ist: Dieser hat bei genauerem Hinsehen auch noch die Form des afrikanischen Kontinents. Zeuge dessen ist niemand anderes als Napoleon, der die Handlung mit grimmigem Gesicht betrachtet, während in seinem Unterleib eine vaginaartige Wunde klafft. Der korsische Feldherr fungiert hier aber nicht nur als Allegorie auf den Expanionsdrang europäischer Kolonialmächte. Gilbert betonte im Gespräch die Nähe zu dem Zulu-König Shaka, einer ebenso tragischen Figur, die viele sicher noch aus einer TV-Serie der 80er kennen. Sein Machtstreben, seine zeitweiligen kriegerischen Erfolge und seine völkervereinenden Errungenschaften brachten ihm den Ruf eines afrikanischen Napoleon ein.
Ob man nun die im Humor und in der kindlichen Darstellung großer Zusammenhänge versteckten Gemeinsamkeiten fokussiert oder doch eher die Unterschiedlichkeit der beiden Werke – jeder, der eine Schwäche für eigenwillige Surrealität und souveräne Außenseitergesten in der Kunst hat, sollte Gilberts und Tibets Arbeiten nicht indifferent gegenüberstehen. Die Chance auf ein eindringliches visuelles Erlebnis sollte man sich jedenfalls nicht nehmen lassen. Bis zum 10. Oktober sind die Arbeiten der beiden Künstler noch im Berliner nationalmuseum zu sehen. (U.S.)

 

25. September 2011
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