anja schrey – sonntag

 

Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond

Im ersten Augenblick einer Begegnung mit den großformatigen Zeichnungen von Anja Schrey könnte man sich verleitet sehen, den Verführungskünsten ihrer handwerklichen Brillanz und Größe zu erliegen, nur um sich der riskanten Illusion hinzugeben, die jeder realistischen Darstellung innewohnt und nach der wir uns instinktiv sehnen, da sie die Welt als etwas Überschaubares darstellt, obgleich wir wissen, dass genau das Gegenteil der Fall ist.
Widersteht man jedoch diesem trügerischen Komfort und begreift, dass die uns begegnende Virtuosität ein kollateraler Effekt ist, eine zwangläufige Dichte, die aus der enormen Intensität resultiert, mit der Anja Schrey die sensibel differenzierten Ebenen eines inneren Zustandes konfiguriert, begegnen wir einem unmittelbaren, semantischen Raum, der selbst ein Gefühl ist, das als direkte Referenz, den genuinen Klang einer Empfindung repräsentiert
In der komplexen Topographie der durch unzählige Striche erzeugten Schichten erscheint im Laufe des Entstehungsprozesses ein zeichnerisches Netzwerk, das sich mit zunehmender Konzentration aus seiner reinen Trägerfunktion löst und dadurch eine seelische Präsenz etabliert, die der Metasprachlichkeit der reinen Empfindung gerecht wird.
Die Präzision und formale Stringenz der Darstellung skizziert mit subtiler Härte die Beschaffenheit einer emotionalen Verfassung und kontert dabei jeden Anflug von Sentimentalität. Durch die Fusion der vermeintlichen Gegensätze von Perfektion und Verletzlichkeit entsteht eine Membran, hinter der sich die souveräne Position verbirgt, jenseits der Metaebene eine Behauptung aufstellen zu können, die frei von Legitimationszwängen ist.

text: Stefan Wissel